16. Juni 2021

Dialekt als Marke – und stolz darauf!

Während die ganze Welt im Rennen um die beste Positionierung buhlt, finden wir auf der Sprachebene allenthalben noch weisse Flecke:

Die Dialekte!

Klar: wir brauchen Sprache im Sinne einer lingua franca, einer allgemein verständlichen verbalen Plattform unseres gemeinsamen Austausches. Da gilt: je grösser die Ausdehnung des gemeinsamen Verständigungsgebietes, desto besser.

Andererseits bedeutet Einheitssprache auch Verlust sprachlicher Vielfalt und Individualität.

Storytelling und Wohlfühlstimmung

Sprachen und im besonderen Dialekte erzählen Geschichten, schaffen Ambience und sind Ausdruck eines Lebensgefühls. Sie stehen in Resonanz zu einer bestimmten Umgebung und ihrer Geschichte, ihrem Lebensgefühl. Und der Wortschatz zeugt von (alten) Handwerken, Berufen, Bauweisen und Landschaften.

Dialekte und Anleihen als USP – auch im Tourismus

Kaum jemand würde bestreiten, dass bayerischer Dialekt am Münchener Oktoberfest besser kommt als ein akzentfreies Hannoveraner Deutsch. Und die Ausführungen eines norddeutschen Makrelenskippers sorgen in Platt (oder dahin tendierender deutscher Sprache) für Lokalkolorit und ein ganz anderes Ortserlebnis. Der Schweizer Akzent im Hochdeutsch (im Oberwallis etwa als „Schuldeutsch“ bezeichnet) eines Berner Oberländers erzeugt im Kopf des deutschen Gastes bestenfalls eine Einheit mit der traumhaften Umgebung – auch wenn der Gast es fälschlicherweise für „Schwizerdütsch“ halten mag. Und der Nachhall führt idealerweise dazu, dass er den Sprachklang die nächsten Jahre mit den schönen Erlebnissen seines Oberland-Urlaubes verknüpft.

Unerkannter Schatz …

Anlässlich eines Vortrages an einem Kreativitätskongress für Touristiker 2019 ging ich näher auf Sprache als Spielzeug ein und erwähnte Beispiele, in denen dialektale oder regionale Sprachspielereien gezielt eingesetzt wurden oder werden.

Ich wies darauf hin, wie wichtig sprachliche Sozialisierung ist, in der sozialen und räumlichen Umgebung.

Und demzufolge auch im Tourismus.

Beim abendlichen Saunieren sprachen mich Teilnehmer auf diesen Vortragsteil an und äusserten ihre Verwunderung über meine Darstellungen. Als Harzer seien sie es gewohnt, für ihren als rückständig und hinterwäldlerisch geltenden Dialekt verlacht zu werden.

Ganz in der Tradition von Herder, der das Thüringische 1796 etwa als „Dialekt blosser Thierlaute“ verunglimpfte.

Dass Dialekte (dazu zähle ich in diesem Artikel vereinfachend auch Soziolekte) und Akzente durchaus unterschiedlich empfunden werden, war ihnen bis dahin nicht so klar.

Sie waren angetan von meiner Haltung, dass wir uns im Zeitgeist von Diversity und Individualität unbedingt auch regional individuelle Sprachvarianten näher ansehen können und wie ich meine: müssen!

Potential!

Das Potential von Dialekten wird naheliegenderweise in grösseren Dialektregionen und abseits der früheren preussischen Kerngebiete seit jeher mehr gepflegt und im Regionalmarketing besser genutzt. Herausragend sind da mehrere Tourismus-Destinationen in Süddeutschland, die teilweise sogar ihr Tourismuskonzept in Dialekt publiziert haben, wie beispielsweise Todtmoos / Domis im Südschwarzwald.

Ein kleiner Rückblick in die Vergangenheit:

Das kommt nicht von ungefähr: Die Einheitssprache Hochdeutsch garantierte als Verkehrssprache unter der Bezeichnung „sächsische Kanzleisprache“ in Verwaltung und Militär eine eindeutige Verständigung. Und Randgebiete fielen da eher vom Wagen.

Kleinfürstentümer oder gar eine regional und geographisch fragmentierte Landesstruktur wie in der Schweiz waren da erst recht nicht gleichermassen auf eine stringente sprachliche Einheitlichkeit angewiesen. (Dafür wurden und werden andere Kommunikationstechniken wie etwa Mimik und Gestik stärker benutzt.)

In Österreich wiederum pflegte man zwar etwas später auch das einheitliche Hochdeutsch als Standardsprache. Das polyglotte (vielsprachige) Sprachenorchester im Habsburger Reich Österreich-Ungarn sorgte jedoch für eine unglaubliche Vielzahl von Lehnwörtern, Akzenten und bedingt durch die ständisch-hierarchischen Gesellschaftsstrukturen ausgeprägten Soziolekte (Sprachvarianten der sozialen Gesellschaftsschichten) für grosse Varianz der Sprache und damit bis heute für – wissenschaftlich belegt – höhere Sprachagilität der Bevölkerung.

Dialekte … iiih … oder doch nicht?

In den letzten ca. 20 Jahren habe ich in den deutschsprachigen Medien einen positiven Einfluss durch internet-medialen Austausch wahrgenommen für das Dialektbewusstsein allgemein. Leider schliesst das nicht automatisch Akzeptanz mit ein.

Während nach Erkenntnissen aus jüngeren Studien in Österreich und der Schweiz Dialekte einen gesunden Status geniessen, kämpfen die Dialekte im Alltag Deutschlands immer noch (oder wieder verstärkt?) um gesellschaftliche Akzeptanz.

Einerseits vermengt und verflacht zwar vieles (nicht zuletzt durch eine gewisse Ignoranz von Hochdeutsch-Repräsentanten gegenüber Regionalismen und der Gefolgsamkeit ursprünglicher Dialektsprecher), andererseits haben alle – und eben auch die Jünger der lupenreinen Hochsprachen – unweigerlich mitbekommen, dass es noch andere Sprachvarianten gibt und die da und dort auch für bestimmte Lebensstile oder andere Assoziations-Räume wie etwa Landschaften stehen.

Varianten des Deutschen sind „zertifiziert“

Nun ist das Hochdeutsch des süddeutschen Raumes (inklusive Schweiz) mit einer anerkannten Variantengrammatik wissenschaftlich untersucht und autorisiert.

Das spricht für sich, ist aber in den zentralen Gebieten der deutschen Hochsprache noch nicht einmal bei der Mehrheit der sprachlichen Fachleute angekommen. Und wird weiterhin verbreitet mit einem beeindruckenden Sprachhoheits-Chauvinismus quittiert. Notabene wurde eine der herausragenden Forscherinnen auf diesem Gebiet, Christa Dürscheid, Linguistin an der Universität Zürich, durch den „hochdeutschen“ Werbespot „Gut gibt’s die Schweizer Bauern“ auf einem Plakat derart angetriggert, dass sie dem Phänomen in ihrer wissenschaftlichen Forschungsarbeit näher auf den Grund ging. Ein „grammatisch falscher“ Werbespruch in Zürich als Grundlage für jahrelange Sprachforschung. Welch ein Werbeeffekt!

… und wie sieht es in anderen Sprachen aus?

Zurück zu den Dialekten im Tourismus: Wir finden die Auseinandersetzung mit den Dialekten auch in anderen Sprachgebieten: In den italienischsprachigen Alpentälern, im Spannungsfeld von Kastilisch-Spanisch und Katalanisch, mit Einfluss kreolischer Spracheigenschaften (die auf die afrikanischen Sprachen der früheren Sklaven zurückgehen) in der Karibik. Die Sprachen ergeben eine schillernde Karte der Kulturgeschichte.

Das Hotel Forni in Airolo hat nach dem Gesamtumbau die internen Räume im Design der Schweizer Wanderweg-Beschilderungen mit den regionalen Dialektbezeichnungen ausgeschrieben.
„Wie soll sich denn da einer zurechtfinden, der noch nicht einmal „normales“ Italienisch kann?“

Kurze Antwort: Wer nicht selber oder mit der Hilfe von Dr. Gockel drauf kommt, darf gerne andere Gäste oder die Hotelmitarbeiter fragen. Kommunikationsbrücken. Ein Mediziner würde es auch als Selbstheilungskräfte bezeichnen.

Die Nachhaltigkeit solcher Erlebnis-Erfahrungen ist rein neurologisch ungleich grösser als jegliche stromlinienförmige Barrierefreiheit in Form von eineindeutiger Hochsprachlichkeit.

Dahinter steckt zudem auch eine Grundeinstellung, die heisst: mutet dem Gast etwas zu; haltet ihn für mündig; biedert Euch nicht einfach dem Mainstream. Traut ihm etwas zu!

und eine offene Frage:

Ein Beispiel, das mir selber eher erörterungswürdig erscheint, befindet sich in den Niederlanden am Dreiländereck mit Belgien und Deutschland: Boscafé t’Hijgend Hert.

Dort ist konsequent alles in Niederländisch beschriftet, alles und alternativlos. Keine 10 km von Deutschland entfernt und im vollen Bewusstsein, dass die allermeisten Deutschen kaum ein Wort Niederländisch sprechen oder verstehen.

Die Frage ist: Affront, Abgrenzung, Ignoranz oder konsequentes Branding?

Ich lasse die Frage hier offen … und hoffe, mit diesen Gedanken da und dort für etwas An- und Aufregung sorgen zu können im Umgang mit der Sprache im Kontext touristischen Brandings.

Für Unterstützung und Vernetzungshilfe stehe ich gerne zur Verfügung: Nils W. Bräm, post@apollonhermes.com

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